Analogspeicher in Namibia
Die dritte »International Summer School 2015 in Culture and Computer Science« fand in Uis/Namibia statt, am Rande des Brandbergmassivs. Uis, eine ehemalige Bergbausiedlung, ist nur auf Gravel Roads (Sandpisten) zu erreichen, so dass wir nach vierstündiger Busfahrt von Windhoek erst einmal bangten, ob die Rechner dem feinen Sand trotzen würden. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass (zumindest) alle (unsere) Rechner aus dem Silicon Valley stammen, um nun hier den Kampf mit dem in alle Ritzen vordringenden Quartzsand anzutreten.
Aber es ist eben genau auch diesem extrem trockenen Klima zu verdanken, dass sich die sogenannte Rock Art der San über Jahrtausende hinweg erhalten hat. Diese Felszeichnungen, die sowohl gemalt wie auch eingraviert wurden, stellten das zentrale Speicher- und Übertragungsmedium der San dar. An besonderen Orten wurden diese Zeichnungen nicht bloß einmal angefertigt, sondern vielmehr von jeder neu dort eintreffenden Gruppe um die jeweils relevanten Informationen ergänzt. Beispielsweise kann die Darstellung einer Kundschaftergruppe von fünf Jägern ihre nachfolgenden Familien darauf hinweisen, dass auf der Suche nach neuen Jagdgründen eine sechste Person verunglückt ist. Zog die Gruppe weiter, weil sie nicht auf ausreichende Nahrungsangebote an diesem Ort stieß, richtete sie ihre Zeichnungen auf diejenige Landmarke aus, die sie als nächstes zu erreichen versuchte. Auf Grundlage dieser Informationen konnten auch andere Gruppen entscheiden, ob sie verweilen oder ebenfalls aufbrechen wollen. Die Tierzeichnungen verweisen in ähnlicher Weise auf Nahrungsressourcen. Wurde so direkt zwischen Mitgliedern der eigenen oder verschiedenen Gruppen kommuniziert, gibt es aber selbstverständlich auch Zeichnungen, die eher der Stabilisierung der kulturellen Praktiken dienten. Beispielsweise werden rituelle Vollzüge dargestellt, die vermutlich auch direkt in die entsprechenden Körpertechniken wie Trancetänze eingebunden waren.
Was hat nun Rock Art mit dem Analogspeicherprojekt zu tun? Teilnehmende der Summer School waren neben Studierenden der Namibian University of Science and Technology (Prof. Muyingi) und Studierenden der Hochschule für Technologie und Wirtschaft (Prof. Brovkov, Prof. Sieck) auch Sebastian Schwesinger und Nikita Hock vom Cluster bzw. dem Institut für Kulturwissenschaft (Prof. Kassung). Unsere zentrale Forschungsfrage lautete, nach welchen Kriterien die San die Orte für ihre Zeichnungen aussuchten. Oder als These formuliert: Die akustischen Eigenschaften eines Ortes werden mitentscheidend für dessen Auswahl gewesen sein. Um diese These empirisch zu unterfüttern, führte unser Team eine ganze Reihe von Experimenten durch mit dem Ziel, die akustischen Eigenschaften dieser Orte zu isolieren und in Hinblick auf die Darstellungen und die verfügbaren ethnologischen und archäologischen Analysen zu interpretieren. Ausgeführt wurden diese Messungen an der Spitzkoppe und in der Tsisab-Schlucht des Brandbergmassivs.
Mithilfe des Acoustic Analyzer XL2 und zerplatzenden Luftballons wurden RT6o-Messungen durchgeführt. Von Felsüberhängen, welche die Rock Art Paintings vor Verwitterung schützen, läuft die Schallwelle des Knalls teilweise weit in die Felslandschaften hinein. Das Messgerät zeichnet auf, wie sich der Schalldruckpegel verringert. In den Diagrammen sieht man für verschiedene Frequenzen die Zeit aufgetragen, nach der sich die Lautstärke um 60 dB abgeschwächt hat. Dabei lassen sich sehr deutlich zwei unterschiedliche Ortstypen unterscheiden. An den beiden akustisch weniger aktiven Stellen (»White Lady« und »Bushmen’s Paradise«) ist der Schall nach etwa einer halben Sekunde verlaufen. Es gibt auch keine herausragenden Frequenzbereiche, für die sich signifikante Nachhalleffekte beobachten lassen. Ganz anders dagegen sind die akustischen Eigenschaften an der »Giraffe«, »Ostrich« und »Fire Dance« Site. Hier zeigen die Diagramme eindeutige Nachhallpeaks einmal für eher tiefe Frequenzen (»Giraffe« und »Ostrich«) und einmal für höhere Frequenzen um 2 kHz (»Fire Dance«). Lassen sich also diese Unterschiede in den akustischen Eigenschaften der verschiedenen Rock Art Sites sehr deutlich benennen, bedarf der Rückbezug zum Bildprogramm noch weiterer Diskussionen und Untersuchungen.
Am Gegenstand der Rock Art Sites konnten wir Methodik und Instrumente der akustischen Vermessung für die weiteren Projektvorhaben testen, in denen gemeinsam mit der klassischen Archäologie an den Überresten und Rekonstruktionen antiker Platzanlagen ähnliche Fragestellungen verfolgt werden sollen. Die Bedeutung akustischer Eigenschaften für die funktionale Ausgestaltung soziokultureller Räume ließ sich in Namibia am Beispiel der vergangenen Kultur der San auch innerhalb einer kurzen Summer School-Woche herausarbeiten. Insbesondere orale Kulturen zeichnen sich, so müssen wir schlussfolgern, durch eine differenzierte Sensibilität für die Akustik ihrer Medienpraktiken aus, die maßgeblich von den natürlichen Infrastrukturen mitgeprägt sind. Um diese Erkenntnisse ebenfalls für Touristinnen und einheimische Interessierte aufzubereiten, wurden sie in eine mobile Applikation integriert, mit der Besucherinnen »on site« mit den steinernen Monumenten akustisch interagieren und sie auf neue Art verstehen lernen können.