Ein fiktives Interview zur kulinarischen Lage der Zeit
Wer ist wir? Hier ist sicherlich zu unterscheiden erstens die Familie mit einer primär zeitlichen Dimension (wer bin ich kulinarisch im Vergleich zu meinen Eltern etc.), zweitens mikrosoziale Gruppen (beispielsweise ein Freundeskreis, mit dem ich mich kulinarisch identifizieren möchte) und makrosoziale Strukturen, also kulinarische Regionen wie das Rheinland oder Bayern. Meine These wäre, daß die mikrosozialen Strukturen aufgrund ihres starken Persönlichkeitsbezugs zunehmend die kulinarischen Regeln ersetzen, die wir von der Familie oder aus größeren regionalen Bezügen kennen.
Kultur ist stets eine mehr oder minder bestimmte Mischung aus Freiheiten und Einschränkungen von Freiheit. Also nur, weil es bestimme Traditionen, Arten oder Geflogenheiten gibt, Dinge zuzubereiten und zu sich zu nehmen, entstehen Vergleichbarkeiten, die dann ihrerseits Bedeutungen generieren. Ein triviales Beispiel: Der Nußkuchen meiner Mutter schmeckt immer noch am besten. Genau diese strukturelle Ausdifferenzierung würde ich als kulinarische Kultur bezeichnen. Daraus resultiert dann aber die spannende Frage in Bezug auf die kulinarische Kultur, ob bzw. wie sich industrielle Produktionsverhältnisse mit der Tatsache verbinden lassen, daß sich Kultur nicht nur konsumieren läßt, sondern daß sie immer auch produziert werden muß. Spätestens bei der Tiefkühlpizza, die millionenfach von einer Nahrungsmittelfabrik ausgespuckt wird, habe ich Probleme mit dem Kulturbegriff.
Genau dies ist die Frage, die Kulinarik und Kulturwissenschaft in Verbindung bringt. Als Kulturhistoriker frage ich mich, wie sich kulturelle Kontexte finden und beschreiben lassen, die Bedingungen oder Möglichkeiten für bestimmte kulinarische Entwicklungen bilden. Und hier sind weiterführende Fragen natürlich leichter als Antworten zu finden. Eine sehr spannende Frage lautet beispielsweise: Gibt es eine Wechselwirkung zwischen Vegetarismus bzw. Veganismus und Säkularisierung, d.h. funktionieren dietätische Regeln ähnlich wie religiöse. Für die Vergangenheit lassen sich solche Wechselwirkungen klarer umreißen. So bildete sich beispielsweise in der Toskana eine stark fleischlastige Küche aufgrund des hohen militärischen Lederbedarfs aus.
Mit Ereignissen und direkten oder sogar monokausalen Auswirkungen habe ich als Kulturwissenschaftler eher Probleme. Eigentlich müßte ja die Klimadebatte der letzten zehn Jahre einen direkten Einfluß auf unser Eßverhalten gehabt haben. Eßkulturen sind aber erstens extrem stabiler und zweitens stark ausdifferenziert, sodaß viele Einflüsse quasi aufgesogen werden können. Zudem kann jedes Essen mit beliebigen Bedeutungen aufgeladen werden. Ich kann also aufhören, Fleisch zu essen, weil ich die Welt damit retten will oder im Gegenteil ein besonders saftiges Steak genießen, weil die Welt untergeht. Entscheidend ist, was meine kulinarische Handlung innerhalb der sozialen Gruppe bedeutet, die für mich in dieser Situation ausschlaggebend ist. So hat sich ja auch der jährliche Fleischkonsum der Deutschen mit etwa 60 kg pro Kopf und Jahr in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich geändert, und das eben trotz »Hormonkalbfleisch« in den 1980ern, der BSE-Krise in den 1990ern, Dioxin oder anderen Schadstoffe in den Futtermitteln, Ekel- oder Gammelfleischskandale usf.
Zunächst einmal: Ja, in Deutschland sind die Konsumausgaben für Lebensmittel gering, jedoch eher im weltweiten Vergleich. Laut jüngsten Zahlen von 2019 machen Nahrungsmittel bei den Konsumausgaben in privaten Haushalten in Deutschland gut 10 Prozent aus, dagegen Frankreich 13 und Italien 17 Prozent, aber die Schweiz und Großbritannien liegen mit nur 9 Prozent am anderen Ende der Skala. Eine andere Größenordnung erreichen die Zahlen erst, wenn man nach Afrika (Namibia 30 Prozent) oder Asien (Indien ebenfalls 30 Prozent) schaut. Interessant ist in meinen Augen die historische Dimension: Da kommen wir nämlich um 1850 von 60 Prozent, haben einen steilen Abfall de Kosten, bis die Kurve etwa 1970 mit 25 Prozent etwas abflacht und dann aber im Grunde seit den 1990er Jahren stabil bei gut 14 Prozent liegt, wenn man auch Getränke und Tabakwaren hinzunimmt. Das heißt umgekehrt: obwohl wir immer vielfältigere Nahrungsmittel konsumieren, bleibt die Wertschöpfung ähnlich. Diese Kostentransfer können aber nur große Lebensmittelketten leisten: Solange wir Erdbeeren auch im Winter im Supermarktregal liegen haben wollen, muß der der Preis für Basisprodukte mit allen Mitteln niedrig gehalten werden. Gemessen am Nettoverdienst erhalten wir heute fünfmal so viel Fleisch an der Theke wie in den 1950er Jahren – daran haben wir uns gewöhnt.
Diese Frage kann ich nur für die Fleischproduktion beantworten. Seit der Einführung des zentralen Schlachtzwangs Ende des 19. Jahrhunderts verschwinden die Tiere sukzessive aus dem alltäglichen Stadtbild. Dieser Prozeß dauert etwa bis zum Zweiten Weltkrieg an, seitdem ist zumindest in Deutschland alle tierische Arbeit durch den Verbrennungsmotor ersetzt. Merkwürdigerweise kehren die Tiere dann als Haustiere zurück, aber für die Haustiere gibt es ein starkes kulturelles Tabu, diese zu Nahrungszwecken zu verwenden. Sozusagen ein Grenztier ist das Pferd, man erinnere sich nur an den Pferdefleischskandal im Jahr 2013. Pferde nach ihrer Nutzphase als Arbeitstiere auch kulinarisch zu verwerten, ist in Deutschland kaum akzeptiert, in China dagegen absolut gängig. Das heißt also, daß die Verbindung zwischen Lebensmittelindustrie und landwirtschaftlichen Produkten eine sowohl historische wie kulturell stark unterschiedliche Ausprägung besitzt.
Zwangsläufig ja, aber die genauere Frage lautet: warum eigentlich? Der entscheidende Faktor ist in meinen Augen das Auseinandertreten von Lebens-, Arbeits- und Freizeiträumen. Denn damit zwangsläufig verbunden ist ein Essen in Zwischenräumen und flexiblen Gruppenkonstellationen. Ein zweiter wichtiger Faktor ist, daß Städte immer schon die Erprobungsorte unterschiedlicher Zukünfte waren und sind. Wir lernen also in der Stadt zu essen, wie es möglicherweise in der Zukunft der Fall sein wird. Mobilisierung, Beschleunigung, maximale Ausdifferenzierung sind hier zumindest für eine Metropole wie Berlin zentrale Stichworte.
Ost und West sind glaube ich zu große Einheiten, um die kulinarische Kultur von Berlin zu charakterisieren. Denn zunächst einmal war Berlin spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts schlicht eine Stadt der Fremden und Zugezogenen. Gegen diesen kulinarischen Druck, so zu essen wie in der Heimat, hat es in Berlin keinen ausreichend starken traditionellen Gegendruck gegeben. Während also die Berliner im Haus Vaterland ihr Löwenbräu tranken oder im Steff die Rheinländer ihr Kölsch, wird man in Köln in einer Brauerei auf deutliches Unverständnis bei dem Versuch stoßen, ein Hefebier oder gar einen Tee zu bestellen. Insofern würde ich sagen, daß die Wiedervereinigung kaum eine strukturelle Veränderung bewirkt hat, allerdings natürlich diese urbane Vielfalt Berlins nochmal verstärkt hat. Diese bildet sich heute in den Kiezen bzw. in einzelnen Straßenzügen ab. Es ist also sehr spannend zu sehen, welche kulinarischen Kulturen in Kreuzberg oder Neukölln aufeinandertreffen und was dagegen in Wilmersdorf oder gar in Zehlendorf geschieht.
Ehrlich gesagt glaube ich nicht an die Globalisierung der Eßkultur. Ich habe einige authentische kulinarische Erfahrungen in China, Malaysia, Afrika oder Südamerika gemacht. Also solche, bei denen man wirklich etwas anderes ißt. Das hat nichts mit »Spaghetti with Meatballs«, »Döner« oder »Bibimbap« zu tun. Ehrlich nicht. Dazu ist Essen dann doch ein zu konservativer Vollzug und zugleich viel zu intim, schließlich müssen wir ja das in uns aufnehmen, was jemand für uns kocht. Da sind Ameisen, Mopane-Würmer oder Jellyfish zu große Differenzen. Globalisierte Küche ist letztlich Einheitsbrei für Tagestouristen.
Ja, das ist die große Frage, die wir bereits eingangs gestreift haben. Cem Özdemir ist wie alle Landwirtschaftsminister vor ihm daran gescheitert, eine wirksame Klimar- und Tierwohlabgabe für Fleisch durchzusetzen. Das ist schon ironisch: was für die Franzosen das Baguette oder die Italiener der Kaffee – beides Kulturgüter ersten Ranges – ist für uns billiges Fleisch. Ich glaube nicht, daß man Ernährungsweisen intentional per Gesetz verändern kann. Das Klima ist dazu viel zu weit vom eigenen Eßtisch entfernt. Was ich aber glaube oder zumindest hoffe, ist, daß das Schlachttier irgendwann einmal als Individuum wieder zurückkehrt. Dazu bräuchte es tatsächlich nur ein kluges Tierrecht. Dies hätte dann zumindest mittelbar positive Klimafolgen.
Ich weiß nicht, ob man Konzernen, deren Agenda notwendigerweise primär ökonomisch ausgerichtet ist, moralische Vorwürfe machen kann oder sollte. Es gibt diesen wunderbarsten aller Eßfilme »Brust oder Keule« von Louis de Funes. Dieser spielt den berühmten Gastrokritiker mit dem sprechenden Namen Duchemain, der über eine ganze Reihe von Zufällen einen Skandal in der Lebensmittelfirma Tricatel aufdeckt. In der Schlußszene wird Funes in die Académie Francaise aufgenommen und findet beim Festdinner in der Pastete seine Taschenuhr, die er zuvor in Tricatels Ekelfabrik verloren hatte. Bei aller grandiosen Selbstironie lautet die klare Botschaft: Paß gut auf, was Du Dir ins Maul stopfst. Und jetzt ehrlich: Wie oft essen wir bewußt und wie oft unbewußt? Wir haben sicherlich den Kontakt zum Ursprung dessen verloren, was wir essen. Aber daran sind wir schon primär selbst schuld, zumindest in einem Selbstversorgerland wie Deutschland. Etwas anderes sind die Produktionsumgebungen selbst: Monokulturen, Pestizide, Düngemittel, Massentierhaltung etc. Hier muß jeder einzelne für sich entscheiden, ob der Druck auf die Politik ausreichend stark ist, um eine geeignete, ökologisch verantwortliche Gesetzgebung zu bewirken.
In Europa und besonders in Deutschland haben wir seit dem Ende des 19. Jahrhunderts keine grundsätzlichen Versorgungsengpässe mehr gehabt, natürlich mit Ausnahme der beide Weltkriege: Wir können im Prinzip alles überall essen. Diese Versorgungsstabilität erhöht aber zugleich die subjektive Sensibilität für Schwankungen, wie der Erdbeerkrise an Weihnachten oder dem Cornflakes-Desaster einer großen Supermarktkette. Womöglich fallen auch kulinarische Absurditäten wie vegane Würste, entkoffeinierter Kaffee oder fettfreier Käse in diese postmoderne Form von Versorgungskrise. Und vielleicht gibt es hier einen gewissen Nachholbedarf in Kulturen, bei denen die Normalität der Allvielfalt historisch etwas später in die Supermärkte kam – aber dies müsste man sicherlich erst soziologisch genauer erheben.
Die Evolution des Menschen war seit jeher, also seit der Hominisierung auf das engste mit den Ernährungsgewohnheiten und -praktiken verbunden. Paläonthologen haben herausgefunden, dass die Menschwerdung, also der Übergang vom Homo habilis zum Homo erectus vor etwa 2 Mio. Jahren und weiter zum Homo sapiens vor ca. 0,3 Mio. Jahren zutiefst mit dem Essen und Kochen von Fleisch verbunden war: Freiwerdung der Hand für den Werkzeuggebrauch, Entwicklung des Gehirns, energiereiche Ernährung usf. Erst eine extrem nährstoffreiche Ernährung erlaubte es, weniger Zeitressourcen auf die Nahrungsmittelbeschaffung zu verwenden. Auch heute trägt das mobile Essen dazu bei, daß wir unsere Zeit noch freier einteilen können. Die postmoderne Beschleunigung der Welt und mobiles Essen hängen für mich also zusammen.
Ich bin selbst in einer ursprünglich ländlichen Region aufgewachsen und habe die Transformationen der Landwirtschaft direkt miterlebt. Es stimmt schon, wenn es heißt, daß heute niemand mehr von der Landwirtschaft leben kann. Dies gilt meiner Einschätzung nach aber nicht durchgängig, sondern etwa für den Weinbau nicht. Es ist ja phänomenal, wie sich der Deutsche Wein als internationales Produkt etabliert hat. Hier kann eine Familie – mit harter Arbeit allerdings – von einer vergleichsweise kleinen landwirktschaftlichen Fläche leben. Warum? Weil das Produkt einen guten Wert hat und weil dieser Wert an den Ort gekoppelt ist, von dem das Produkt stammt. Ich glaube also, daß der schöne französische Begriff des Terroirs ein wichtiges Element für eine solche Transformation sein könnte.
Noch einmal: Lebensmittel bedeuten nichts per se. Es gibt nicht das gute Fleisch, das ungesunde Fett, das gesunde Obst oder den schlechten Zucker. Essen gewinnt seine Bedeutung innerhalb der jeweiligen historischen und kulturellen Konstellationen, in denen wir es betrachten bzw. konsumieren. Aber genau deshalb sprechen wir ja auch von kulinarischen Kulturen. Und da kann ich nur sagen: Sobald Kultur ausschließlich konsumiert und nicht mehr auch von den gleichen Akteuren produziert wird, wird es schwierig. Also: Weg mit den Labels auf den Verpackungen (und diese bitte auch gleich ganz weglassen) und rein in die Kochschulen.
Auch wenn die Idee des organisierten Vegetarismus bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, halte ich diesen für die zentrale Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte. Allerdings sind die Möglichkeiten einer Wertschöpfung durch Nahrungsmittel in Europa so begrenzt, daß diese Entwicklung sich schnell mit technologischen und großtechnologischen Akteuren verkoppelte.
Woran wir uns seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland gewöhnt haben, ist, daß nahezu jedes Nahrungsmittel jederzeit und überall verfügbar ist. Dieses Paradigma ist einer sehr erfolgreichen Expansion der Nahrungsmittelindustrie, der raumzeitlichen Verdichtung der Rohstoffketten, aber auch sehr viel Chemie und Plastik zu verdanken. Wir wissen heute, daß die Rohstoffe der Welt nicht ausreichen, um alle Menschen darauf in dieser Weise zu ernähren. Dieses theoretische Wissen muß in lebbare und gerechte Praktiken transformiert werden.
Wichtig ist mir hier, daß uns der Unterschied zwischen Techniken und Praktiken bewußt wird. Essen ist ein derart individueller Vorgang, eine alltägliche und doch hoch subjektive Praxis, daß wir immer wieder vergessen, welche technischen und technologischen Dimensionen dahinter stehen. Wir wollen halt, daß auch die Tiefkühlpizza zumindest in der Werbung extra für uns hergestellt wurde, obwohl dies ja gerade nicht der Fall ist. Die Techniken werden also bewußt verschleiert, damit eine industrielle Nahrungsmittelproduktion überhaupt möglich wird. Mit meinen Forschungen möchte ich diese technischen Dimensionen versteh-, aber auch erfahrbar machen.