Filtering Oranienburg

Erforschung der Geschichte einer Stadt als radioaktive Industrielandschaft

Glühstrumpf für Continental-Lampen – Kunstseide. BBWA U3/31 Auergesellschaft/MSA Deutschland, Nr. F/14.

Jedes Handeln, ob menschlicher oder nicht-menschlicher Akteure, setzt Wissen voraus. Aber es ist zugleich mit Nicht-Wissen verbunden. Denn wer auf ein vollständiges Wissen wartet, wird entweder ewig warten oder vor lauter Abwägungen schlichtweg keine Entscheidung treffen können. Dieses notwendige Wechselspiel von Wissen und Nicht-Wissen kann man auch als einen Filterprozeß verstehen. Filter, seien dies Praktiken oder Apparate, ermöglichen es, in unsicheren Situationen zu handeln. Als eine wesentliche Kulturtechnik strukturieren sie Wissen mit dem Ziel von Handlungsfähigkeit und vermitteln so zwischen Wissen und Handeln. Gerade deshalb aber ist Filtern eine immer auch problematische Kulturtechnik, der ein Zug zur intransparenten Herrschaftstechnik inhärent ist. Filter verhandeln zwischen dem Erwünschten und dem Unerwünschten und zwischen dem, was als gefährlich oder sicher gilt. Als Kulturtechnik mag Filtern kontextunabhängig sein – kontextneutral aber ist es niemals (vgl. Cubasch, Alwin J. et al. (2021) und Kassung (2023)).

Besonders sichtbar, und eben auch wirksam wird diese umweltliche Dimension der Kulturtechnik des Filterns in den herausgefilterten und damit verdichteten Abfällen, die zwangsläufig entsorgt werden müssen. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive bilden diese toxischen Hinterlassenschaften die Spuren zur Erforschung von Filtern. Denn mit und durch diese toxischen Hinterlassenschaften verdichten sich historische Machtgefälle zu konkreten Landschaften problematischer Stofflichkeit, die jedoch oftmals unter der Wahrnehmungsschwelle verbleiben.

Innerhalb dieses Theorierahmens untersucht das Projekt »Filtering Oranienburg« die Geschichte der Stadt als einer radioaktiven Industrie- und Brachlandschaft. Um die Wende zum 20. Jahrhundert siedelten sich in Oranienburg große Chemiefabriken der Gaslichtindustrie an. Aus den dort raffinierten Monazitsanden wurden unter anderem radioaktives Thorium und die Seltene Erde Cer gewonnen. Neben der Verwendung dieser Elemente für die Herstellung von Glühstrümpfen versuchten die Unternehmen, neue Verwendungszwecke für ihre Produkte zu finden. Wir bezeichnen dies als Kommodifizierung von Seltenen Erden und Radioaktivität.

Die in Oranienburg vorhandene Restradioaktivität ist auf diese industriellen Aktivitäten und ihre anschließende Zerstörung während eines alliierten Bombenangriffs im März 1945 zurückzuführen. Das Ziel der Bombardierung war die vollständige Zerstörung aller deutschen kerntechnischen Fähigkeiten und Materialien, bevor diese in sowjetischen Besitz gelangen konnten. Während Oranienburg aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts langsam zu einer toxischen Umwelt wurde, begann eines der dortigen Unternehmen durch die Entwicklung von Filtertechnologien von der industriellen Vervielfältigung eben solcher toxischen Umwelten zu profitieren. Im Umgang mit seltenen Erden und weiteren Stoffen spezialisierte sich allen voran die Auer AG auf die Herstellung von Schutzausrüstungen für toxische Umwelten. Sie produzierte Gasmasken, die während des Ersten Weltkriegs weit verbreitet waren, und sie versorgte Nazi-Deutschland mit Luftschutzausrüstung im Zweiten Weltkrieg. Wir bezeichnen dies als Kommodifizierung toxischer Umwelten. Oranienburg und seine Bevölkerung waren jedoch nie nur passive Zuschauer der eingesetzten Technologien und der mit ihnen verbundenen Hinterlassenschaften. Von den 1920er Jahren an bis in die Gegenwart zeigen Dokumente kontinuierliche Bemühungen, den Zustand ihrer Umgebung zu hinterfragen, zu verändern und zu verbessern. Die toxische Landschaft Oranienburgs war immer auch ein umkämpfter Raum.

»Filtering Oranienburg« verwendet deshalb umwelthistorische Ansätze, die sich in seiner ersten Forschungsdimension kritisch mit jenen Machtstrukturen befassen, die die Extraktion, Raffinierung und Entsorgung industrieller Materialien formierten. Diese Strukturen lassen sich aber nur dann vollständig erfassen, wenn das Projekt globale Perspektiven auf Materieströme mit einem mikroskopischen und topologischen Ansatz verbindet, der die polychrone Natur von Umwelt und Technologie ernst nimmt. In »toxic landscapes« greifen unterschiedlichste Zeitskalen und Rhythmen ineinander. Daher wird das Projekt versuchen, neue Konzepte der Landschaft und Temporalität zu entwickeln. Nur mithilfe einer solchen Methodologie läßt sich die Komplexität der verschiedenen Zeitskalen und Landschaftsdimensionen, auf denen sich die Geschichte Oranienburgs abspielt, analytisch bewältigen. Das Ergebnis soll ein multiperspektivisches Narrativ sein, das sich mit der spezifischen Verflechtung von Orten, Macht, Umwelt und Filtertechnologien befasst, zugleich aber diese Verflechtungen einerseits in zeitgemäße und andererseits auf andere Orte übertragbare Begrifflichkeiten bringt.

Die zweite Forschungsdimension des Projekts nutzt Oranienburg als Experimentierfeld zur Erforschung und Entwicklung von Ansätzen für kollektive Zukünfte in beschädigten Landschaften. Dazu gehört zunächst die Kartierung und Auseinandersetzung mit der soziopolitischen Landschaft des heutigen Oranienburgs. Dies ermöglicht dem Forschungsprojekt eine reflexive Schleife, die das Begriffsverständnis von Partizipation, Experteninterventionen und dem Verhältnis von Wissenschaft und lokalen Interessen kontinuierlich hinterfragt. Das Projekt will ein AR-Museum für Oranienburg schaffen, das die Hinterlassenschaften seiner Geschichte durch visuelle, auditive und haptische Interaktion erforschbar macht. Wer so durch Oranienburg wandert, kann die Schichten der Zeit, die Fabriken und Lager, die radioaktive Verseuchung des Bodens und die versteckte Gefahr durch nicht explodierte Bomben sehen. Anhand des Fallbeispiels Oranienburg will das Projekt erforschen, ob diese in die Landschaft eingebettete AR-Intervention ein prototypisches Navigationssystem und Werkzeug sein könnte, um die ständig wachsende Zahl toxischer Landschaften zu durchqueren, die der Mensch rund um den Globus geschaffen hat. Ziel ist es herauszufinden, ob dieses Interventionsformat in der Lage ist, den musealen Blick zu dezentralisieren und multisensorische Begegnungen zu schaffen, die über die bloße Inszenierung toxischer Hinterlassenschaften hinausgehen, indem sie eine dialogische Situation von Ausstellung, Forschung und Bürgerwissenschaft schaffen.

In diesem Projekt wird Oranienburg zu einem paradigmatischen Forschungsgegenstand, an dem wir unser Verständnis von Filtern als einer fundamentalen Kulturtechnik testen und weiterentwickeln. Wir glauben, dass Filtern eine zentrale Rolle für die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts spielen wird – im Guten wie im Schlechten. Filtern funktioniert dabei sowohl auf der materiellen als auch auf der diskursiven Ebene und kann nur als Ergebnis historischer Filterprozesse verstanden werden. Deshalb wollen wir die Geschichte und Gegenwart Oranienburgs als genealogische Kaskade vergangener Filteroperationen verstehen und erfahrbar machen.

Projektwebsite: https://www.matters-of-activity.de